Verzinsung von Steuernachforderungen und -erstattungen mit 6% p.a. ab 2014 verfassungswidrig.


Das BVerfG hat entschieden, dass die Verzinsung von Steuernachforderungen und Steuererstattungen in § 233a i. V. m. § 238 Abs. 1 Satz 1 AO verfassungswidrig ist, soweit der Zinsberechnung für Zinszeiträume ab dem 01.01.2014 ein Zinssatz von 0,5 % pro Monat zugrunde gelegt wird.

Die Erhebung von Nachzahlungszinsen in Höhe von monatlich 0,5 % nach Ablauf einer zinslosen Schonfrist von grundsätzlich 15 Monaten stellt eine Ungleichbehandlung von Steuerschuldnern, deren Steuer erst nach Ablauf der Schonfrist festgesetzt wird, gegenüber Steuerschuldnern dar, deren Steuer bereits innerhalb der Schonfrist bestandskräftig festgesetzt wird. Gemessen am allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG erweist sich diese Ungleichbehandlung für Zinszeiträume, die in die Jahre 2010 bis 2013 fallen, noch als verfassungsgemäß, für Zinszeiträume, die in das Jahr 2014 fallen, jedoch als verfassungswidrig. Ein weniger unbilliges und mindestens ebenso geeignetes Mittel zur Förderung des Gesetzeszwecks wäre die Vollverzinsung mit einem niedrigeren Zinssatz. Die Unvereinbarkeit der Verzinsung nach § 233a AO mit dem Grundgesetz umfasst auch die Verzinsung von Erstattungen zugunsten der Steuerpflichtigen. Für Zinszeiträume bis einschließlich 2018 gilt das bisherige Recht weiter. Für Zinszeiträume, die in das Jahr 2019 und später fallen, sind die Regelungen jedoch nicht mehr anwendbar. Der Gesetzgeber ist verpflichtet, bis zum 31. Juli 2022 eine verfassungskonforme Neuregelung zu erlassen.

Der Sachverhalt:

§ 233a AO regelt die Verzinsung von Steuernachzahlungen und Steuererstattungen. Die Zinsen gelten für den Zeitraum zwischen der Entstehung der Steuer und ihrer Festsetzung (Grundsatz der Vollverzinsung). Die Verzinsung beginnt jedoch nicht erst mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Steuer entstanden ist, sondern bereits nach einer zinslosen Karenzzeit von 15 Monaten. Von der Vollverzinsung sind also nur diejenigen Steuerpflichtigen betroffen, deren Steuer erst nach Ablauf eines längeren Zeitraums nach Entstehen des Steueranspruchs erstmals festgesetzt oder geändert wird. Von besonderer praktischer Bedeutung sind insoweit (geänderte) Steuerbescheide nach einer Außenprüfung. Nach § 238 Abs. 1 AO betragen die Zinsen 0,5 % für jeden vollen Monat des Zinszeitraums, also 6 % pro Jahr. Verzinslich sind nur die in § 233a Abs. 1 Satz 1 AO abschließend aufgezählten Arten der Einkommensteuer, Körperschaftsteuer, Vermögensteuer, Umsatzsteuer und Gewerbesteuer. Die Vollverzinsung wirkt sich sowohl zu Gunsten (im Falle einer Steuererstattung) als auch zu Ungunsten (im Falle einer Steuerforderung) des Steuerpflichtigen aus. Die Gründe für eine verspätete Steuerfestsetzung und insbesondere die Frage, ob den Steuerpflichtigen oder die Behörde ein Verschulden trifft, sind für die Zinsberechnung unerheblich.

Die Verfassungsbeschwerden betreffen die Festsetzung von Nachzahlungszinsen gemäß § 233a AO zur Gewerbesteuer nach einer Außenprüfung. Die Beschwerdeführer wenden sich gegen die die Zinsen bestätigenden Urteile der Fachgerichte. Mittelbar wenden sie sich gegen § 233a AO, soweit für die Zinsberechnung § 238 Abs. 1 Satz 1 AO gilt. Gegenstand der Verfassungsbeschwerde ist ein Zinszeitraum vom 1. Januar 2010 bis zum 14. Juli 2014.

Wesentliche Erwägungen des Senats:

I. Die Verzinsung von Steuernachforderungen nach § 233a in Verbindung mit § 238 Abs. 1 Satz 1 AO war ursprünglich verfassungsgemäß. Die Vorschrift ist jedoch insoweit nicht mehr mit Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar, als der Zinsberechnung für Zinszeiträume, die in das Jahr 2014 fallen, ein Zinssatz von 0,5 % pro Monat zugrunde gelegt wird.

(1) Nach geltendem Recht werden Steuerpflichtige, deren Steuer erst nach Ablauf der Schonfrist festgesetzt wird, im Vergleich zu Steuerpflichtigen, deren Steuer innerhalb der Schonfrist festgesetzt wird, ungleich behandelt. Nur die Erstgenannten sind zinspflichtig. 2.

(2) Die Rechtfertigung dieser Ungleichbehandlung wird an strengeren Verhältnismäßigkeitsanforderungen gemessen.

a) Der Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG verbietet es dem Gesetzgeber nicht, jede Differenzierung vorzunehmen. Allerdings muss eine solche Differenzierung stets durch sachliche Gründe gerechtfertigt sein, die dem Ziel und dem Ausmaß der Ungleichbehandlung angemessen sind. Je nach Regelungsgegenstand und Ausprägung der Differenzierung ergeben sich für den Gesetzgeber unterschiedliche Grenzen, die von einer lockeren, auf das Willkürverbot beschränkten Bindung bis hin zu strengen Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit reichen können. Eine strengere Bindung des Gesetzgebers kann sich aus den jeweils betroffenen Freiheitsrechten ergeben. Darüber hinaus sind die verfassungsrechtlichen Anforderungen umso strenger, je weniger die Merkmale, an die die gesetzliche Differenzierung anknüpft, für den Einzelnen verfügbar sind. Dieser allgemeine gleichheitsrechtliche Maßstab gilt auch für die Auswahl des Zinsgegenstandes (Vollverzinsung nach § 233a AO) und die Festsetzung des Zinssatzes (§ 238 AO).

b) Nach diesen Grundsätzen sind hier strengere Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit zu stellen. Zwar berührt die Vollverzinsung zu Lasten des Steuerpflichtigen nach §§ 233a, 238 AO im Wesentlichen nur die allgemeine Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG. Die Eigentumsfreiheit nach Art. 14 Abs. 1 GG ist dagegen von vornherein nicht betroffen, weil die Auferlegung einer Verzinsungspflicht nicht so grundlegend in die Vermögensverhältnisse der Betroffenen eingreift, dass sie eine erdrosselnde Wirkung entfaltet. Der Zeitpunkt der Steuerveranlagung und damit die Überschreitung der Schonfrist ist für den einzelnen Steuerpflichtigen jedoch weitgehend unverfügbar. Es liegt letztlich in der Sphäre der Finanzbehörden oder - bei der Gewerbesteuer - in der Regel auch in der Sphäre der Gemeinden, wann die Steuer festgesetzt wird.

3 § 233a i. V. m. § 238 Abs. 1 Satz 1 AO genüge zunächst den hier anzuwendenden strengeren Rechtfertigungsanforderungen und sei verfassungsgemäß.

a) Das Ziel der Vollverzinsung, den Umstand auszugleichen, dass die Steuern für die einzelnen Steuerpflichtigen zu unterschiedlichen Zeitpunkten festgesetzt und fällig werden, ist legitim. Die Verzinsung von Steuernachforderungen beruht auf der Annahme, dass Steuerschuldner, deren Steuern verspätet festgesetzt werden, einen fiktiven Zinsvorteil haben. Der Zweck der Vollverzinsung besteht darin, diesen Zinsvorteil abzuschöpfen. Die Vollverzinsung als solche ist auch geeignet, die Erreichung dieses Ziels zu fördern. Dies gilt grundsätzlich auch unter Berücksichtigung der Höhe des Zinssatzes, da zumindest bis 2014 noch regelmäßig Guthabenzinsen erzielt werden konnten.

b) Die Vollverzinsung ist auch als solche erforderlich. Weder die Abschöpfung des von den Steuerpflichtigen tatsächlich erzielten Liquiditätsvorteils noch eine Ausgestaltung der Vollverzinsung dahingehend, dass Nachzahlungszinsen nur im Falle einer von den Steuerpflichtigen selbst verschuldeten verspäteten Steuerfestsetzung erhoben werden, sind gleichermaßen geeignet, den Differenzierungszweck zu erreichen. Auch soweit die Vollverzinsung an einen festen Zinssatz gekoppelt ist, begegnet ihre Erforderlichkeit keinen Bedenken. Ein variabler Zinssatz führt nicht per se zu weniger Ungleichheit als ein fester Zinssatz. 4.

Der volle Zinssatz von 0,5 % pro Monat ist jedoch für die in das Jahr 2014 fallenden Zinsperioden nicht mehr erforderlich und verstößt gegen den Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG.

a) Der Gesetzgeber ist zwar grundsätzlich berechtigt, den durch eine verspätete Steuerfestsetzung erzielten Zinsvorteil des Steuerpflichtigen zum Zwecke der Verwaltungsvereinfachung einheitlich zu bestimmen. Er darf aber nicht einen atypischen Fall als Vorbild wählen, sondern muss sich in realistischer Weise am typischen Fall orientieren. Da der Gesetzgeber die Höhe des gewählten Zinssatzes zu keinem Zeitpunkt ausdrücklich begründet hat, ist eine Gesamtschau der erkennbaren Motive und Erwägungen erforderlich, um die zumindest mutmaßlich leitenden Kriterien bei der Bemessung des Zinssatzes zu bestimmen. Der Vorteilsausgleich durch Vollverzinsung im Nachzahlungsfall beruht auf der Annahme des Gesetzgebers, dass es sich bei dem abzuschöpfenden Vorteil um einen potentiell auflaufenden Zinsvorteil handelt. Zur Ermittlung dieses Zinsvorteils in Höhe von monatlich 0,5 % knüpfte der Gesetzgeber im Jahr 1990 an § 238 AO an, der bereits für die bisherigen Zinsberechnungsvorschriften der Abgabenordnung galt. Begründet wurde dies allein mit der Praktikabilität des festen Zinssatzes. Allerdings sind auch Hinweise auf den damaligen Diskontsatz, der durch den heutigen Basiszinssatz ersetzt wurde, erkennbar. Offensichtlich hatte der Gesetzgeber noch den Marktzins im Blick und eine Synchronisierung der Höhe von Verzugs- und Erstattungszinsen. Diese Kriterien, die der Gesetzgeber bei der Festlegung des Zinssatzes als Maßstab herangezogen hat, sind in ihrer Gesamtheit geeignet, den möglichen Vorteil einer verspäteten Steuerfestsetzung widerzuspiegeln.

b) Die Vollverzinsung zu Lasten des Steuerpflichtigen mit einem Zinssatz von 0,5 % pro Monat war daher zunächst verfassungsgemäß. Die Annahme des Gesetzgebers, dass dieser Zinssatz den potenziellen Vorteil aus einer verspäteten Steuerfestsetzung widerspiegelt, war im Jahr der Verabschiedung des Steuerreformgesetzes 1990, mit dem die Vollverzinsung in die Abgabenordnung eingeführt wurde, zutreffend. Mit einem Jahreszinssatz von 6 % entsprach der Zinssatz in etwa den Verhältnissen auf dem Geld- und Kapitalmarkt, die insoweit als Maßstab maßgeblich waren.

c) Trotz der grundsätzlichen Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers lässt sich der Zinssatz von 0,5 % pro Monat nicht mehr rechtfertigen, wenn sich der einheitlich festgelegte Zinssatz im Laufe der Zeit unter veränderten tatsächlichen Bedingungen als offensichtlich unrealistisch erweist. Dies ist spätestens seit 2014 der Fall.

Nach dem Ausbruch der Finanzkrise im Jahr 2008 hat sich ein strukturelles Niedrigzinsniveau entwickelt, das nicht mehr Ausdruck normaler Zinsschwankungen ist. Dies spiegelt sich zunächst in der Entwicklung des Leitzinses wider. Während er 2008 noch über 3 % lag, sank er im Laufe des Jahres 2009 rapide auf 0,12 %. Seit Januar 2013 befindet er sich im negativen Bereich. Vor dem Hintergrund, dass sich der Diskontsatz in den fünfzig Jahren seines Bestehens zwischen 2,5 % und 8,75 % und der Leitzins vor 2009 zwischen 1,13 % und 3,32 % bewegte, zeigt diese Entwicklung ein Niedrigzinsniveau, das nicht mehr Ausdruck üblicher Zinsschwankungen ist, sondern spätestens seit 2014 strukturellen und nachhaltigen Charakter hat. Die Entwicklung der Zinssätze am Kapitalmarkt zeigt einen entsprechenden Trend. Im Jahr 2014 hatte sich der Jahreszinssatz von 6 % bereits so weit vom tatsächlichen Marktzinsniveau entfernt, dass er bereits etwa das Doppelte des höchsten noch erzielbaren Kreditzinssatzes betrug. Auch die als Maßstab heranzuziehenden Kreditzinsen folgten dem oben dargestellten Abwärtstrend. Der typische Zinssatz von 6 % p.a. hat sich daher spätestens seit 2014 unter den veränderten tatsächlichen Bedingungen nach Ausbruch der Finanzkrise als offensichtlich unrealistisch erwiesen. Im zunehmend niedrigen Zinsumfeld ist er offensichtlich nicht mehr in der Lage, den potenziellen Vorteil aus der Nachversteuerung adäquat abzubilden. Mit seiner Anknüpfung an einen Jahreszinssatz von 6 % wirkt der Vollzins daher spätestens für Zinszeiträume, die in das Jahr 2014 fallen, generell überhöht und ist damit verfassungswidrig geworden. 5.

5 Für Zinszeiträume, die in das Jahr 2013 fallen, vermag der gesetzliche Zinssatz dem Zweck der Erhebung von Verzugszinsen immer weniger zu entsprechen. Allerdings wirkt der volle Zinssatz insoweit nicht offensichtlich überhöht. Er ist auch nicht unverhältnismäßig im engeren Sinne. Eine verfassungsrechtlich auffällige Unverhältnismäßigkeit liegt insoweit noch nicht vor. Auch das aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG abgeleitete Übermaßverbot ist insoweit nicht verletzt. Die Vorteile des starren, typisierten Zinssatzes in der Verwaltungspraxis stehen nach wie vor in einem angemessenen Verhältnis zu der damit verbundenen Ungleichbehandlung der zinspflichtigen Steuerpflichtigen. Im Jahr 2013 habe sich das niedrige Zinsniveau noch nicht so weit verfestigt, dass der gesetzlich festgelegte Zinssatz im Regelfall offensichtlich unrealistisch sei.

II. Die Verfassungsbeschwerde zu I. im Verfahren 1 BvR 2237/14 ist - soweit sie zulässig ist - unbegründet, weil sie einen Zinsbescheid für den Zeitraum von 2010 bis 2012 betrifft.

III. Die Verfassungsbeschwerde zu II. im Verfahren 1 BvR 2422/17 ist teilweise begründet. Soweit sie den Zinszeitraum vom 1. Januar 2014 bis zum 14. Juli 2014 betrifft, verletzt die Entscheidung des Verwaltungsgerichts den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 3 Abs. 1 GG. Die Entscheidung des Verwaltungsgerichts verletze sie in ihrem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 GG. Im Übrigen ist die Verfassungsbeschwerde unbegründet.

IV. Im Ergebnis wird § 233a in Verbindung mit § 238 Abs. 1 Satz 1 AO umfassend und für alle Zinszeiträume ab dem 1. Januar 2014 für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt. Aufgrund des einheitlichen Regelungskonzepts des Gesetzgebers ist die Unvereinbarkeit von Zinsen nach § 233a AO nicht auf Nachzahlungszinsen zu Lasten der Steuerpflichtigen beschränkt, sondern umfasst auch Erstattungszinsen zu Gunsten der Steuerpflichtigen. Für Zinszeiträume vom 1. Januar 2014 bis zum 31. Dezember 2018 gilt die Vorschrift jedoch weiter, ohne dass der Gesetzgeber verpflichtet ist, auch für diesen Zeitraum rückwirkend eine verfassungsrechtliche Regelung zu schaffen. Für Zinszeiträume, die in das Jahr 2019 und später fallen, bleibt die Vorschrift hingegen unanwendbar. Hier ist der Gesetzgeber verpflichtet, bis zum 31. Juli 2022 eine Neuregelung zu erlassen, die sich rückwirkend auf alle Zinszeiträume ab 2019 erstreckt und alle noch nicht bestandskräftig gewordenen Hoheitsakte erfasst.

Quelle: Pressemitteilung des BVerfG Nr. 77/2021 vom 18.08.2021